Intern entwickelte immaterielle Vermögenswerte: Das große Rauschen
Einleitung
Immaterielle Vermögenswerte – Patente, Lizenzen und Software, aber auch Markenzeichen, Reputation und der Geschäftswert eines Unternehmens (engl. Goodwill) – sind seit jeher fester Bestandteil des Wirtschaftslebens.1 Ein Unternehmen kann diese Vermögenswerte intern entwickeln oder durch Fusionen und Übernahmen (M&A) erwerben. Nach US-amerikanischen Rechnungslegungsvorschriften (US GAAP) werden Kosten im Zusammenhang mit intern entwickelten immateriellen Vermögenswerten grundsätzlich bei ihrem Anfall als Aufwand verbucht, denn ihr zukünftiger Nutzen lässt sich vergleichsweise schwer feststellen, objektiv identifizieren und bewerten. Bei Fusionen und Übernahmen werden die intern entwickelten immateriellen Vermögenswerte der erworbenen Unternehmen dagegen meist als extern erworbene immaterielle Vermögenswerte zu ihrem beizulegenden Zeitwert in der Bilanz ausgewiesen.
Der Wert intern entwickelter immaterieller Vermögenswerte ist nicht feststellbar und wird daher in neueren Studien häufig geschätzt. Dazu werden die Forschungs- und Entwicklungsausgaben eines Unternehmens (F&E) sowie Vertriebs-, Verwaltungs- und Gemeinkosten (VVG) addiert und anschließend zu konstanten Raten abgeschrieben.2 Rizova und Saito (2021) kommen jedoch zu dem Ergebnis, dass die Schätzungen intern entwickelter immaterieller Vermögenswerte Rauschen enthalten. In diesem Artikel gehen wir der Frage nach, wie gravierend dieses Rauschen ist. Sind die Schätzungen so ungenau, dass wir sie eher nicht verwenden sollten? Oder ist das Rauschen so schwach, dass wir die Fundamentaldaten eines Unternehmens wie Aktiva und buchmäßiges Eigenkapital um die Schätzwerte ergänzen sollten, wenn wir Bewertungs- und Profitabilitätskennzahlen berechnen?
Da niemand den „wahren Wert“ intern entwickelter immaterieller Vermögenswerte kennt, lassen sich diese Fragen nur schwer beantworten. Bei Fusionen und Übernahmen können wir jedoch zwei Werte miteinander vergleichen: den Schätzwert, der wie zuvor beschrieben anhand der vergangenen Gewinn- und Verlustrechnungen (GuV) berechnet wird, und den vom Käufer ausgewiesenen Bilanzwert.
Dieser ausgewiesene Wert sollte dem „wahren Wert“ intern entwickelter immaterieller Vermögenswerte eher entsprechen als Schätzungen, schließlich entsteht er in einem wettbewerbsorientierten Kapitalmarkt für Fusionen und Übernahmen. Ein Vergleich dieser beiden Werte im Kontext einer Fusion oder einer Übernahme sollte uns daher ein Gefühl dafür geben, wie stark die Schätzwerte rauschen, die anhand der historischen Kosten aus der GuV berechnet werden. Zum Beispiel hat die Priceline Group im Jahr 2014 OpenTable, Inc. gekauft und dabei immaterielle Vermögenswerte in Höhe von 1,4 Milliarden US-Dollar verbucht, was etwa dem 18-Fachen des Schätzwerts von 80 Millionen US-Dollar entsprach. Der Schätzwert hatte nur geringe Auswirkungen auf das Kurs-Buchwert-Verhältnis von OpenTable, Inc. vor der Übernahme: Das unbereinigte KBV lag bei 6,3, der bereinigte Wert (mit dem geschätzten immateriellen Vermögen) bei 4,6. Addieren wir jedoch den Bilanzwert der immateriellen Vermögenswerte zum Buchwert hinzu, sinkt das Kurs-Buchwert-Verhältnis auf 0,9. Womöglich beeinflussen immaterielle Güter die Bewertung eines Unternehmens in Wirklichkeit also sehr viel deutlicher.
Nach diesem Schema haben wir mehr als 700 M&A-Transaktionen aus den Jahren 2011 bis 2020 analysiert. Das Ergebnis: Die geschätzten Werte und die Bilanzwerte immaterieller Vermögenswerte stimmen nicht überein, weder im Einzelfall noch in aggregierter Form. Dieses Ergebnis lässt den Schluss zu, dass sich Anleger nicht auf Schätzwerte für intern entwickelte immaterielle Vermögenswerte verlassen sollten, die aus vergangenen GuV-Posten abgeleitet werden. Im nächsten Abschnitt gehen wir genauer auf die Ergebnisse ein und erläutern anschließend anhand von zwei Fallbeispielen den Grund für das hohe Datenrauschen.
Rauschmessung
Für unsere Analyse verwenden wir Fusions- und Übernahmedaten von Bloomberg für den Zeitraum von Januar 2011 bis Dezember 2020. Wir beschränken uns dabei auf insgesamt 730 Transaktionen zwischen zwei US-notierten Unternehmen, bei denen die Beteiligung von 0% auf 100% steigt.
Die anhand der historischen Ausgaben geschätzten Werte für intern entwickelte immaterielle Vermögenswerte vergleichen wir mit den aus den Transaktionen ersichtlichen Werten, wobei wir die bereits bestehenden bilanzwirksamen immateriellen Vermögenswerte des erworbenen Unternehmens (extern erworbene immaterielle Vermögenswerte und Geschäftswert) abziehen, da diese nicht in Schätzungen einfließen, die sich an den historischen Ausgaben orientieren. Auch die von den erwerbenden Unternehmen neu ausgewiesenen Geschäftswerte berücksichtigen wir nicht, da diese Werte in erster Linie die künftigen Cashflows aus den Synergien zwischen den beiden Unternehmen betrifft3 und nicht von dem erworbenen Unternehmen vor der Akquisition generiert wurde.
Abbildung 1 zeigt eine statistische Zusammenfassung unserer Datenmenge. Gemessen an der Marktkapitalisierung der übernommenen Unternehmen lag das M&A-Transaktionsvolumen in den USA zwischen 2011 und 2020 bei knapp 2 Billionen US-Dollar. Allein der reine Transaktionswert spricht für eine rigorose Preisermittlung und sollte den Wert der ausgewiesenen immateriellen Vermögenswerte der erworbenen Unternehmen ihrem „wahren Wert“ näherbringen. Die Tabelle zeigt auch, dass die geschätzten Werte selbst in aggregierter Form erheblich von den ausgewiesenen Werten abweichen. Das Verhältnis der aggregierten immateriellen Vermögenswerte zu den Aktiva beträgt 0,15 für die Schätzungen bzw. 0,40 für die in der Bilanz ausgewiesenen Werte. Für einzelne Sektoren oder Kapitalisierungssegmente gilt dasselbe. In allen Gruppen übersteigen die bilanzierten immateriellen Werte tendenziell die geschätzten Werte. Ein Grund hierfür könnte der Auswahleffekt sein: Vielleicht werden Unternehmen häufiger Ziel einer Übernahme, wenn der zukünftige Wert ihrer immateriellen Vermögenswerte weniger ungewiss ist, zum Beispiel nach der Zulassung eines in der Entwicklung befindlichen Arzneimittels durch die amerikanische Food and Drug Administration (FDA). Intern geschaffene immaterielle Vermögenswerte mit höheren Cashflow-Prognosen würden dann eher Gegenstand einer Fusion oder einer Übernahme – und würden so zu extern erworbenen immateriellen Vermögenswerten.
Allerdings liegt der Wert der bilanzierten immateriellen Vermögenswerte nach einer Akquisition nicht in jedem Fall über dem vorherigen Schätzwert. Wie aus Abbildung 2 hervorgeht, schwankt das Verhältnis zwischen den ausgewiesenen und den geschätzten immateriellen Werten zwischen einzelnen Transaktionen erheblich, die Schätzwerte liegen in vielen Fällen entweder deutlich über oder deutlich unter den ausgewiesenen Werten. So überstieg der Wert der bilanzierten immateriellen Vermögenswerte den Schätzwert in jeder vierten Transaktion um mehr als das Doppelte (das 75. Perzentil für den Quotienten liegt bei 2,58), in der Spitze war der Bilanzwert 3.212-mal höher. Andererseits lag der Bilanzwert bei 25% der Transaktionen um mehr als 70% unter dem Schätzwert. Bei weiteren 33 Transaktionen wiesen die erwerbenden Unternehmen trotz einem Schätzwert von null einen positiven Bilanzwert aus (deutliche Unterschätzung), bei 54 Transaktionen lag der Bilanzwert trotz positivem Schätzwert bei null (deutliche Überschätzung).
Zusammenfassung der M&A-Transaktionen, 2011 bis 2020
Verteilung des Verhältnisses von bilanzierten zu geschätzten immateriellen Vermögenswerten in 730 M&A-Transaktionen, 2011 bis 2020
Für eine weiterführende Analyse der Abweichungen zwischen geschätzten und bilanzierten immateriellen Vermögenswerten stellen wir für jedes erworbene Unternehmen in unserer Datenmenge beide Werte in einem Diagramm dar (Abbildung 3). Vergleicht man die beiden Dollarwerte, erkennt man eine lineare Beziehung (Abbildung 3, Diagramm A). Dies überrascht jedoch nicht, zumal größere Unternehmen in der Regel über mehr und kleinere Unternehmen über weniger Vermögenswerte verfügen, wodurch sich automatisch eine positive Korrelation zwischen geschätzten und bilanzierten immateriellen Vermögenswerten ergibt. Genauer lässt sich das Verhältnis von geschätzten zu bilanzierten immateriellen Vermögenswerten untersuchen, wenn man sie relativ zum Transaktionsvolumen setzt.
Diagramm B in Abbildung 3 zeigt beide Werte aller untersuchten Transaktionen im Verhältnis zur Bilanzsumme. Je näher ein Datenpunkt an der 45-Grad-Linie liegt, desto besser stimmen der geschätzte und der bilanzierte Wert der immateriellen Vermögenswerte überein – was sich in Diagramm B nicht besonders häufig beobachten lässt. Die hohe Streuung lässt vielmehr erhebliches Rauschen in den Schätzungen erkennen. Daraus wiederum lässt sich ableiten, dass die geschätzten Daten wahrscheinlich wenig Informationen über den Wert des immateriellen Vermögens eines Unternehmens enthalten. Nicht in dem Diagramm enthalten sind zudem 43 extreme Datenpunkte, bei denen der Wert der geschätzten oder der bilanzierten immateriellen Vermögenswerte die Bilanzsumme des erworbenen Unternehmens um mehr als das Vierfache übersteigt, was ebenfalls auf Datenrauschen hindeutet.4,5
Schätz- und Bilanzwert intern entwickelter immaterieller Vermögenswerte, 2011 bis 2020
Diagramm A: Logarithmus der nicht skalierten immateriellen Vermögenswerte in Mio. USD | Diagramm B: Immaterielle Vermögenswerte im Verhältnis zur Bilanzsumme des erworbenen Unternehmens
Um die Frage zu beantworten, ob die Daten je nach Marktsegment stärker oder schwächer rauschen, haben wir die Daten nach Marktkapitalisierung der erworbenen Unternehmen aufgeschlüsselt (Diagramm A in Abbildung 4). Wie man sieht, wird der anhand von GuV-Daten geschätzte Wert der immateriellen Vermögenswerte von größeren Unternehmen häufiger und konsistenter unterschätzt.6 Doch noch immer liegt das Verhältnis von bilanziertem zu geschätztem Wert zwischen 0 und 180. Mit anderen Worten: Selbst wenn man davon ausginge, dass der Wert immaterieller Vermögenswerte großer Unternehmen tendenziell unterschätzt wird, hätten wir immer noch keinen akzeptablen Multiplikator für eine systematische „Korrektur“ der Werte.
Zusätzlich unterteilen wir die Daten nach Branche, da der Bilanzanteil immaterieller Vermögenswerte je nach Sektor deutlich schwanken kann und in der Regel im Technologie- und Gesundheitssektor höher ist.7 Wie aus Diagramm B hervorgeht, lassen sich jedoch auch innerhalb dieser Sektoren keine klaren Muster erkennen.
Schätz- und Bilanzwert intern entwickelter immaterieller Vermögenswerte, 2011 bis 2020
Diagramm A: Nach Marktkapitalisierung
Diagramm B: Nach Sektor
Diagramm C: Nach Komponente
Geschätztes Wissenskapital des erworbenen Unternehmens | Geschätztes Organisationskapital des erworbenen Unternehmens
Zusätzlich haben wir die beiden Komponenten geschätzter intern entwickelter immaterieller Vermögenswerte – Wissens- und Organisationskapital – getrennt voneinander untersucht (Diagramm C). Die Daten, die der Berechnung dieser Komponenten zugrunde liegen, sind mit unterschiedlichen Problemen behaftet, weshalb eine entsprechende Aufschlüsselung die Beziehung zwischen den geschätzten und den bilanzierten Werten immaterieller Güter womöglich besser beleuchten kann. Die größte Herausforderung bei der Schätzung von Wissenskapital liegt in dem Mangel entsprechender F&E-Daten, die selbst heute nur von etwa 50% der Unternehmen ausgewiesen werden (siehe u. a. Rizova und Saito 2021). Bei der Schätzung des Organisationskapitals ist es vor allem die Unklarheit in der Unterscheidung zwischen dem Anteil der Herstellungskosten (COGS) und des Vertriebs- und Verwaltungsaufwands (VVG) in den Betriebskosten, der je nach Unternehmen und Datenquelle schwanken kann. Durch die getrennte Analyse beider Komponenten werden jedoch ebenfalls keine klaren Muster erkennbar. Zwar wird das bilanzierte Wissenskapital in den Schätzungen tendenziell zu niedrig angesetzt, die Beziehung ist jedoch schwach und die Streuung zu hoch für eine belastbare Anpassung auf Grundlage des geschätzten Wissenskapitals.
Das Rauschen in den Schätzungen intern entwickelter immaterieller Vermögenswerte auf Grundlage der GuV-Daten scheint also insgesamt so gravierend zu sein, dass die Schätzwerte nur wenig mit den Werten zu tun haben, die von den erwerbenden Unternehmen in ihrer Bilanz ausgewiesen werden.
Wieso rauschen die Daten?
Nachdem wir festgestellt haben, dass die Schätzwerte intern entwickelter immaterieller Vermögenswerte je nach Unternehmen sehr unterschiedlich ausfallen, wollen wir auf konkrete Beispiele eingehen, um die Ursachen dieses Rauschens besser zu verstehen. Rizova und Saito (2021) stellen mehrere Gründe für Datenrauschen fest, von fehlenden kompetitiven Bewertungsverfahren über Datenverfügbarkeits- und Qualitätsmängel bis hin zu den Annahmen, die den Schätzmethoden zugrunde liegen. Die Ergebnisse der Schätzmethode werden zum Beispiel nicht um Variationen in der unternehmensspezifischen Umwandlung von VVG- und F&E-Ausgaben in Gewinne bereinigt. Viele dieser Ausgaben werden möglicherweise nie einen tatsächlichen Nutzen einbringen, was zu einer Überschätzung der intern entwickelten immateriellen Vermögenswerte führen kann. Andererseits können erfolgreiche F&E-Projekte sehr viel mehr als den Gesamtwert ihrer Kosten einbringen, was eine Unterschätzung zur Folge hätte.
Grundsätzlich lässt sich das Rauschen nur selten bestimmten Quellen zuordnen. Dennoch wollen wir uns ein genaueres Bild der Ursachen machen und nutzen dafür neben M&A-Daten auch die Finanzkennzahlen der erworbenen Unternehmen vor sowie der erwerbenden Unternehmen nach einer Übernahme. Dabei beschränken wir uns auf Transaktionen aus dem Jahr 2015, da wir so Daten für einen Zeitraum von mindestens fünf Jahren nach der Übernahme haben. Durch die Analyse aktuellerer Transaktionen profitieren wir gleichzeitig von genaueren Daten, da die Berichtsqualität im Laufe der Jahre zugenommen hat. Nachstehend stellen wir zwei Fallstudien vor.
Fallstudie 1: Übernahme von Pharmacyclics durch Abbvie
Im Mai 2015 übernahm Abbvie den Pharmahersteller Pharmacyclics Inc. für 20,8 Milliarden US-Dollar abzüglich Verbindlichkeiten in Höhe von 7,1 Milliarden US-Dollar. Abbvie verbuchte damals immaterielle Vermögenswerte in Höhe von 26,2 Milliarden US-Dollar, davon Goodwill für potenzielle Synergien in Höhe von 7,6 Milliarden US-Dollar und andere immaterielle Vermögenswerte (Rechte, Lizenzen und laufende Forschungs- und Entwicklungsarbeiten) im Zusammenhang mit dem Krebsmittel von Pharmacyclics im Wert von 18,6 Milliarden US-Dollar. Der Schätzwert auf Grundlage der historischen Ausgaben betrug dagegen zum Ende des letzten Geschäftsjahres vor der Transaktion lediglich 364 Millionen US-Dollar. Wie lässt sich eine derart große Diskrepanz erklären?
Ein möglicher Faktor: Die Dauer der Börsennotierung des Unternehmens. Der Wert der immateriellen Vermögenswerte wird anhand aller bis dato veröffentlichten F&E- und VVG-Zahlen geschätzt und hängt daher vom Zeitpunkt des Börsengangs ab. Unter ansonsten gleichen Bedingungen wäre der Schätzwert der immateriellen Vermögenswerte also höher, je länger ein Unternehmen an der Börse notiert ist. In diesem Fall lässt sich die Bewertungsdiskrepanz jedoch kaum durch einen erst kürzlich erfolgten Börsengang erklären, denn Pharmacyclics war im Oktober 1995 an die Börse gegangen, also 20 Jahre vor der Transaktion.
Auch Datenmängel kommen als Ursache infrage. Selbst ein Unternehmen, das seit Langem an der Börse notiert ist, weist seine F&E- und VVG-Kosten womöglich nicht kontinuierlich aus – oder sie werden von den Datenanbietern nicht erfasst. Doch auch lückenhafte Daten kommen als Ursache für die Abweichungen in diesem Fall wohl nicht infrage, denn Pharmacyclics hat seine F&E-Ausgaben seit dem Börsengang durchgehend veröffentlicht. Angaben zu den VVG-Kosten fehlen dagegen vollständig; der Wert des Krebsmedikaments, der wichtigsten Quellen der immateriellen Vermögenswerte, sollte jedoch in erster Linie auf Forschung und Entwicklung zurückgehen, nicht auf Vertrieb und Verwaltung.
Ein dritter denkbarer Grund ist der Erfolg des Krebsmedikaments, dessen Wert damit deutlich über die geschätzten Kosten für seine Entwicklung steigen würde. Pharmacyclics hat sein Krebsmedikament in Zusammenarbeit mit Janssen entwickelt und vermarktet, einem Pharmaunternehmen und Tochtergesellschaft von Johnson & Johnson. Zu diesem Zwecke bestand seit Dezember 2011 eine Kooperationsvereinbarung mit diesem Unternehmen. Vor dem Zusammenschluss mit Abbvie meldete das Unternehmen mehrere Durchbrüche. Beispielsweise wurden zwischen 2013 und 2015 sowohl von der FDA als auch von der Europäischen Kommission mehrere Indikationen für das Krebsmedikament des Unternehmens zugelassen, weshalb Pharmacyclics in den Jahren 2012, 2013 und 2014 Umsätze in Höhe von 82, 260 bzw. 730 Millionen US-Dollar ausweisen konnte. Diese Einnahmen stammten zum Großteil aus Vorauszahlungen und den Meilensteinzahlungen von Janssen und könnten Abbvie dazu veranlasst haben, die immateriellen Vermögenswerte von Pharmacyclics bei der Übernahme mit 18,6 Milliarden US-Dollar zu bewerten.
Doch waren sie auch, wie von Abbvie erhofft, wirtschaftlich profitabel? In den Jahren von 2015 bis 2020 hat Abbvie allein mit diesem Krebsmedikament Umsätze von insgesamt 18,7 Milliarden US-Dollar erzielt – und damit mehr als den bereits 2015 bilanzierten immateriellen Vermögenswert und das Doppelte des Geschäftswerts. Wertminderungen des bilanzierten immateriellen Vermögenswerts bzw. des Geschäftswerts blieben zudem aus.
Wie dieses Beispiel deutlich macht, geht die Berechnungsmethode auf Grundlage historischer Ausgaben zwar davon aus, dass sich die Ausgaben für immaterielle Güter eins zu eins in materiellen wirtschaftlichen Wert umwandeln lassen. Erfolgreiche Produkte können jedoch Einnahmen generieren, die die ursprünglichen Ausgaben deutlich übersteigen. Genau diese Erwartung sollte der Ausgangspunkt jedes Projekts sein, schließlich beginnt niemand ein Projekt in der Hoffnung, nur seine Kosten zu decken oder sogar Geld zu verlieren.
Fallstudie 2: Übernahme von Lorillard durch Reynolds American
Dass die Bewertungen immaterieller Vermögenswerte über ihren historischen Ausgaben liegen, sehen wir nicht nur im Gesundheitssektor. Im Juni 2015 etwa übernahm Reynolds American Inc. das Tabakunternehmen Lorillard, Inc. für 25,8 Mrd. USD (abzüglich 15,6 Mrd. USD an Verbindlichkeiten). Der Goodwill für Synergien und latente Steuern wurde mit 9,9 Milliarden US-Dollar angesetzt, die anderen immateriellen Vermögenswerte ohne Goodwill (hauptsächlich Marken) bewertete Reynolds mit 27,4 Milliarden US-Dollar. Der Schätzwert auf Grundlage der historischen Ausgaben per Ende des letzten Geschäftsjahres vor der Transaktion belief sich dagegen auf lediglich 743 Millionen Dollar.
Vor der Übernahme konnte Lorillard kontinuierlich Nettogewinne von rund 1 Milliarde Dollar pro Jahr ausweisen, die Nettogewinnmarge betrug etwa 25%. Das wichtigste Produkt von Lorillard, Newport, war die zweitgrößte Zigarettenmarke in den USA. Nach der Übernahme ging das Unternehmen in R.J. Reynolds auf, einer Tochtergesellschaft von Reynolds American Inc. Vor allem deshalb stieg der Jahresumsatz von R.J. Reynolds von knapp 7 Mrd. USD auf mehr als 10 Mrd. USD, der Marktanteil des Unternehmens in den USA stieg von 26% auf 32% (jeweils vor bzw. nach der Übernahme).
Dieses Beispiel zeigt mindestens zwei Gründe auf, warum sich die historischen Ausgaben nur begrenzt zur Schätzung intern entwickelter immaterieller Vermögenswerte eignen: Zum einen werden in der Schätzung die historischen Kosten jährlich zu einem festen Prozentsatz abgeschrieben, sodass alle geschätzten immateriellen Vermögenswerte den größten Teil ihres Wertes automatisch innerhalb eines festen, durch die Amortisierungsrate vorgegebenen Zeitraums verlieren. Auf eine etablierte Marke wie Newport und auf andere deutlich langlebigere immaterielle Vermögenswerte trifft diese Annahme jedoch nicht zu. Zweitens geht die Berechnungsmethode davon aus, dass sich die Ausgaben eins zu eins in den Netto-Gegenwartswert des zukünftigen wirtschaftlichen Werts umrechnen lassen.
Fazit
Wie wir in dieser Studie zeigen, sind die Schätzungen intern entwickelter immaterieller Vermögenswerte und die Anpassung der Bilanz um diese Schätzwerte nicht unbedingt zweckdienlich. Anhand von Fusions- und Übernahmedaten vergleichen wir Schätzungen, die aus historisch verbuchten GuV-Ausgaben abgeleitet werden, mit den Werten, die am M&A-Markt ermittelt und nach der Transaktion in der Bilanz der erwerbenden Unternehmen ausgewiesen werden. Dabei stellen wir ein hohes Maß an Streuung zwischen den geschätzten und den ausgewiesenen immateriellen Werten fest. Je nach Transaktion können die Schätzwerte viel kleiner oder viel größer ausfallen als die Bilanzwerte. Tatsächlich sind die ausgewiesenen immateriellen Werte in 25% der untersuchten Transaktionen mehr als doppelt so hoch wie die Schätzwerte, bei weiteren 25% liegen sie um mehr als 70% darunter. Auch die Ursachen für das Datenrauschen variieren bei jeder Transaktion. Diese Erkenntnis deckt sich mit den Ergebnissen unserer Analyse, wonach sich aus Schätzungen intern entwickelter immaterieller Vermögenswerte nur wenige Informationen über zukünftige Cashflows ableiten lassen, die über die in den aktuellen Cashflows enthaltenen Informationen hinausgehen, und dass die Aktivierung dieser Schätzwerte in der Bilanz nicht zu beständig höheren Value- und Profitabilitätsprämien führt.
Anleger sollten diese unzuverlässigen Schätzwerte daher nicht in ihren Anlageprozess integrieren, denn sie riskieren unnötigen Portfolioumschlag und höhere Kosten ohne greifbaren Nutzen. Zur Bewertung der Querschnittsvariationen intern entwickelter immaterieller Güter stehen zudem effektivere Alternativen zur Verfügung. Wie Rizova und Saito (2021) zeigen, nimmt der Einfluss der Schätzwerte intern entwickelter immaterieller Güter auf die Value-Prämie sowohl in den USA als auch in anderen Märkten ab, wenn man Sektoreinflüsse herausrechnet. Differenzen zwischen den Bewertungen intern entwickelter immaterieller Vermögenswerte unterschiedlicher Unternehmen lassen sich daher womöglich besser erfassen, indem man in Value- und Profitabilitäts-Rankings auf diese Sektoreinflüsse achtet.
Footnotes
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1FAS 142 definiert immaterielle Vermögenswerte als Vermögenswerte (ohne Finanzanlagen) ohne physische Substanz.
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2Siehe unter anderem Hulten und Hao (2008), Eisfeldt und Papanikolaou (2013, 2014), Peters und Taylor (2017), Park (2019), Lev und Srivastava (2019), Eisfeldt et al. (2020), und Rizova und Saito (2021).
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3Der Geschäfts- oder Firmenwert (Goodwill) kann auch solche intern entwickelten immateriellen Vermögenswerte des erworbenen Unternehmens enthalten, die als nicht identifizierbar gelten. Da eine numerische Aufschlüsselung des Geschäfts- oder Firmenwerts in Synergien und andere Anteile in der Regel nicht ausgewiesen und der Goodwill meist an den künftigen Cashflows aus Synergien bemessen wird, ziehen wir den Geschäfts- oder Firmenwert für den Vergleich ab. Darüber hinaus enthält FAS 141 eine detaillierte Anleitung zu den Kriterien für eine Ausweisung in der Bilanz sowie Beispiele identifizierbarer immaterieller Vermögenswerte. Die erwerbenden Unternehmen müssen demnach alles in ihrer Macht Stehende tun, um „alle erworbenen immateriellen Vermögensgegenstände, die die Kriterien in Paragraph 39 der Rechnungslegungsstandards entsprechen, zu bilanzieren, sodass sie nicht unter dem ursprünglich als Geschäfts- oder Firmenwert angesetzten Betrag subsumiert werden.“
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4Wir kommen zu ähnlichen Ergebnissen, wenn wir die immateriellen Vermögenswerte durch die Marktkapitalisierung des erworbenen Unternehmens zum Monatsende unmittelbar vor der Transaktion dividieren.
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5Der Schwellenwert von vier basiert auf dem 99. Perzentil (ungefährer Wert) der Datenmenge, berechnet auf Grundlage des Quotienten der geschätzten immateriellen Vermögenswerte und der Bilanzsumme.
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6Das maximale Verhältnis von bilanzierten zu geschätzten immateriellen Werten für große, mittlere und kleine Unternehmen beträgt 180, 55 bzw. 3.212.
- 7Siehe u. a. Rizova und Saito (2021). Abrufbar unter https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3697452.
Anhang
Quelle: Dimensional. Markt- sowie die M&A-Daten von Bloomberg. Transaktionsspezifische Finanzdaten wie Goodwill und bilanzierte immaterielle Vermögenswerte der erworbenen Unternehmen sind den 10-K-Berichten der erwerbenden Unternehmen entnommen. Sonstige Finanzdaten, z. B. das Gesamtvermögen sowie VVG und F&E, die zur Berechnung der geschätzten immateriellen Vermögenswerte notwendig sind, stammen von Compustat.
Die Sektoren entsprechen der GICS-Klassifizierung, die von Bloomberg bezogen und wie folgt kombiniert wurde. GICS wurde von MSCI und S&P Dow Jones Indices LLC, einer Unternehmessparte von S&P Global, entwickelt und ist deren alleiniges Eigentum. Bloomberg-Daten von Bloomberg. Alle Rechte vorbehalten.
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